Das Abiturium - Der schlesische Schriftsteller und Heimatdichter Paul Petras

Die Oder bei Grünberg / Schlesien
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Dr. Paul Petras
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Das Abiturium

Leben

Paul und die Reifeprüfung - mit Frack ins Abiturium

Die Oberprima 1880 (jeweils v.l.n.r.): Paul Petras und Georg Reich (Reihe oben), Lehrer Nipko, Wenzel, Direktor Fritsche, Oskar Kornatzki, Ari W. (Reihe Mitte), Hartmann, Georg Mannigel, Rudolf Hoffmann, Hugo Schmidt, Pilz, N.N. (Reihe unten).

Nach dem Jahreswechsel 1881 beginnen im Grünberger Gymnasium die Vorbereitungen für das Abitur-Examen. Die Lehrer wiederholen ausgewählte Stoffe - und Paul plagt sich in Physik mit der Gravitation und der Elektrizität.
In Geschichte stehen die französische Revolution und der Große Kurfürst zur Wiederholung an. Auch bei Freund Georg Mannigel wird Stoff wiederholt - "bei Bier, Wein und Skat"... Freund Georg Reich hat schon für die Zukunft geplant und sich bereits ein Stipendium gesichert.

Am 28. Februar 1881 beginnen die schriftlichen Abiturarbeiten mit Mathematik. Zunächst müssen sich alle per Unterschrift verpflichten, "nicht zu mogeln". Aber Schulkamerad und Primus Hoffmann "wird uneinsichtig! Er mogelt doch!" Paul löst alle vier Aufgaben und gönnt sich abends "Erholung bei Freund Wennrich mit Billard".

Tags drauf, am 1. März, steht Deutsch zur schriftlichen Probe auf dem Plan. Thema: "Die allgemeine Wehrpflicht, eine Würdigung." Abends wieder erholt sich Paul in "Gellerts Ruh" - es ist Fastnacht. Am nächsten Tag, dem 2. März, geht es um Physik - die Aufgabe löst Paul in einer halben Stunde, allerdings in seinem ungeliebten Fach Chemie "weiß Petras nichts" und schreibt "aus Verzweiflung" auf gut Glück etwas über Wasserstoffsäuren. Abends geht es wieder zur Eisbahn. Und danach zum Skat bei Wennrich.

Englisch folgt am 3. März: "The Great Elector", am 4. März Französisch mit einer Übersetzung "aus Herder (Patrie!)" - "scheußlich schwer". Abends folgt die nächste Skatrunde und gemeinsames Flötenspiel.
 
Am 5. März wird die Note für den Deutsch-Aufsatz bekanntgegeben: Paul erhält für seinen Aufsatz "gut". In Mathe erhofft er sich eine "befriedigend", ebenso in Physik - in Chemie rechnet er allerdings mit "ungenügend"! Am 8. März die Französisch-Note: Er hat wegen eines dummen Fehlers statt einem "gut" lediglich "befriedigend" bekommen.
 
Am 10. März erfahren die sieben Abitur-Kandidaten, wer in den schriftlichen Arbeiten ein "ungenügend" bekommen hat. Freund Reich freut sich - er hat "kein ungenügend". Paul kennt sein "ungenügend" in Chemie schon. Primus Hoffmann erntet ein "ungenügend" in Mathe, Schmidt eines in Französisch, Freund Mannigel eines in Deutsch, Hartmann und Mannigel jeweils eines in Mathematik. Am 13. März freuen sich alle Kandidaten, denn der Direktor Fritsche teilt ihnen mit, dass alle sieben zum mündlichen Examen am 28. März zugelassen sind.
 
Das Friedrich-Wilhelm-Realgymnasium zu Grünberg

Das Abiturium
 
Drei Wochen vor dem mündlichen Abitur-Examen besucht Paul den Grünberger Bürgermeister Kampfmeyer, um wegen eines Stipendiums von der Stadt nachzufragen. Doch der Bürgermeister rät ihm zunächst von einem Studium ab, macht ihm aber dennoch Hoffnung auf eine mögliche positive Entscheidung des Magistrats. Auch im persönlichen Umfeld sucht Paul nach etwaigen Gönnern – z.B. über Fräulein Lips, die ihm eine Unterstützung durch die Familie Söderström in Aussicht stellt.
 
Bei einem seiner regelmäßigen Skat-Abenden im Ratskeller erfährt Paul, dass Bürgermeister Kampfmeyer in einem Gespräch mit seinem Freund Oskar empfiehlt: „Der Petras könnte ja Reichstags-Stenograph werden.“ Denn er hat gehört, dass Paul stenographieren kann. Dies stimmt, denn Paul hat sich in seiner Freizeit die Gabelsberger Kurzschrift angeeignet. Doch Pauls Ambitionen gehen weiter, er will studieren. Und er beginnt schon mal mit seinem „Curriculum vitae“, seinem Lebenslauf.
 
Am Vortag der mündlichen Abitur-Prüfung – Sonntag, 27. März 1881 – geht Direktor Fritsche vom Realgymnasium mit den Prüfkandidaten spazieren, „um die Köpfe frei zu bekommen“. Abends gibt es noch eine Skatrunde bei Freund Wennrich im Ratskeller – und Paul formuliert später noch sein Stipendiumsgesuch. Die Formulare dazu hat ihm Freund Oskar gegeben.
 
Es folgt der historische Tag des Abituriums. Und Paul, der sich zu diesem Tag eigens einen „Bratenrock“ – einen Frack – ausleihen musste, hat diesen Tag ausführlich beschrieben:

Mein Abiturientenexamen

"Am 28. März 1881, früh 8 Uhr, versammelten wir 7 Abiturienten uns in der Tertia des Friedrich-Wilhelms-Realgymnasiums zu Grünberg. Wir trugen sämtlich den Frack, eine Unsitte, die jetzt den Abiturienten verboten ist.

Kaum waren wir vollzählig – der eine lugte noch einmal ängstlich in Matthaei’s Geschichtstabelle – da erschien der Pedell Heinrich Bürger im Alltagsanzug und machte einen feierlichen Bückling. Er stammelte einige tröstlich klingenden Glück- und Segenswünsche: „Meine Herrn“, sprach er, „ich wünsch Ihnen allen, allen recht viel Glück, dass Sie recht gut durchkommen mögen“, schraubte den Ofen zu und verschwand.
 
Dann steckte Herr Herforth sein ziemlich bartloses Gesicht zur Klassentür herein und winkte mit der ernstesten Miene der Welt ein „Kommen Sie!“. Im Gänsemarsch schritten wir hinter ihm drein über den Korridor nach der Prima, die gerade gegenüber unter der Treppe lag. Unsere Gesichter glichen denen von Delinquenten, denen das Urteil vorgelesen werden soll. Ich stellte mir wenigstens ein Delinquentengesicht ungefähr wie das des Primus Hoffmann vor, den ich mit einem kritischen Blicke musterte. Ich sah vielleicht ebenso aus.
 
Sämtliche Lehrer hatten ihre Schwalbenschwänze angelegt und standen malerisch gruppiert hinter dem an Stelle der Klassenbänke aufgebauten grünen Tische da. Ich schloss eilig die Hände. Aber es wurde noch nicht gebetet. Man wies uns unsere Plätze an, und ich selber in meiner peinlichen Herzensangst, hohnlachend allen Förmlichkeiten, setzte mich sofort auf meinen Stuhl. „Bitte, stehen Sie doch gefälligst auf“, rief mir der Herr Direktor Frische zu, „wir wollen erst beten!“ Ich erhob mich also wieder zerknirscht.
 
Oberlehrer Dr. Walther, am rechten Ende des Tisches stehend, sprach das Gebet. Er las es übrigens aus einem kleinen Notizbuche ab. Sein heller Diskant drang recht beweglich in unsere Herzen. Ganz besonders aber in meines. Doch ich müsste lügen, wenn ich irgendein Wort aus dem Gebete eine Stunde darauf hätte wiederholen können. Jetzt erinnere ich mich, dass er bei den Worten „immer glücklich geführt und geleitet, getragen und erhalten und bewahret hast, du bist ja unsere Hülfe und Rettung und Stütze, du bist ja unser Wachsen und Gedeihen gewesen“, dass er sich bei diesen Worten ungewollt nicht auf die mannigfaltigen Nullen und Vieren bezog, die seine Notizbücher in Bezug auf unsere bisherigen Leistungen in Religion schmückten. Auch der Ausdruck, „dass unsere Arbeit nicht vergäblich gewäsen sein möchte“ fiel mir auf! Ich gedachte dabei des allabendlichen Bierskats in der Wiederholungsstunde bei Mannigel und des schönen Liedes, das wir oft dabei sangen: „Ich arbeite vergeblich und bringe meine Zeit umsonst und unnütz zu.“
 
Andere wirre Gedanken, die sich während des Gebets durch mein Hirn schlichen, waren z.B.: Wie müsste sich ein Bild dieser befrackten Herren mit ihren scheinheiligen Mienen ausnehmen, wenn sie alle auf einem waagerechten, hoch angebrachten Brett an der Wand hefteten, oder wie giftig werden die eben noch so fromm dreinschauenden Prüfer auf mich blicken, wenn sie mein lückenhaftes Wissen sondieren werden?
 
Nach dem Gebet ging‘s los! „Sie, Hoffmann, sprechen Sie sich einmal über die Propheten aus!“ sagte Walther. Hoffmann besann sich lange. Dann zählte er die Herren Propheten langsam und feierlich (er wollte damit die Zeit totschlagen) nach Luthers Inhaltsverzeichnis auf. Richtig war die Reihenfolge indessen auch nicht. Ich sah, wie ein Lehrer das sofort zu Protokoll nahm. Alle anderen Lehrer kritzelten etwas in ihre Notizbücher. Doch nein! Nicht alle! Es gab auch löbliche Ausnahmen, die nur guten Antworten zu notieren schienen. Nachdem Hoffmann sein Thema nach allen Dimensionen breitgetreten, gab ihm Walther noch etliche Fragen aus Kirchgeschichte und Dogmatik auf.
 
Dann wurde der Verfasser dieser Denkschrift – Paul - vorgenommen. Er gab Auskunft über die „Unterscheidungslehren und den Jakobusbrief“. „Was wissen Sie von seinem Verfasser?“ fragte Walther. Der Prüfling Petras kennzeichnete die verschiedenen Jakobs. Dann legte er die Lehrstreitigkeiten der Protestanten nach Luthers Tode zur Genüge dar. Zum Schluss sollte er noch ein Lied von Martin Luther nennen, und zwar eins, das Luther nach einem Psalter gedichtet habe. Diese Frage stellte der Königliche Kommissarius selbst. Prüfling Petras gab die „feste Burg“ an – der Kommissar aber schüttelte seinen Kopf. „Nein, nicht wahr Herr Oberlehrer Walther, das ist keins!?“ Nein, bestätigte Walther. Nur die Stimme eines Lehrers im Hintergrund rief ein vorlautes „Ja“. Es war der der Vorschullehrer Durdant, der mich zu retten versuchte. Ich warf ihm einen Dankesblick zu und besann mich weiter. Endlich entrang sich meiner Brust ein Seufzer. Halt, dachte ich: „Aus tiefer Not?“ Nur Mut! Und ich rief ächzend: „Aus tiefer Not schrei ich zu dir!“ – „Gut, natürlich“ rief lächelnd der Kommissar. Zugleich brach allgemeine Heiterkeit aus.
 
Nun kamen die anderen an die Reihe. Nachdem ich in Religion so schön durchgekommen war, hörte ich lange Zeit überhaupt nichts und bewunderte nur die Ausdauer der einzelnen Lehrer im Gähnen…
 
In der Mathematik entwickele ich die Formel „sin alpa + sin beta + sin gamma = 2. cos alpha:2 cos beta:2“, das heißt – ich entwickle die ganze Tafel voll, behauptete alles Mögliche, aber konnte nichts beweisen. Aber die Kommission war überzeugt von meinen großen Formelkenntnissen: „ Es ist genug!“
 
Im Lateinischen bekam ich Livius zum Übersetzen vorgelegt: Buch 21,15 und 16 sowie Virgil 10 Verse aus der Aeneis. Da ich sie fließend lesen konnte, brauchte ich sie nicht mehr zu übersetzen.
 
Mittlerweile war es 1 Uhr geworden. Wir wurden bis 3 Uhr entlassen. Ich stürzte zu Peltners und stärkte meinen Leichnam. Um 3 Uhr ging es im Französischen mit Mirabeaus Reden weiter. Ich hatte Glück. Ohne zu stottern und nach Vokabeln zu fragen, las ich die Geschichte herunter. Mein Vortrag aus dem Stehgreif hatte zum Thema: Cette chambre et la place devant l’école. Ich beschrieb die feierliche Aussicht, beantwortete die französischen Fragen des Direktors in Bezug auf das Kriegerdenkmal unten auf dem Platze und genügte, bis auf eine Regel, gegen die ich arg verfehlte.
 
Nun kam mein Reinfall in Geschichte: Nicht einmal die Schlacht bei Pharsolos wusste ich. Erst riet ich auf 44 vor Christi. „Nu doo“ sagte Matthaei, den wir „Bull“ nannten, weil er so „bullrig“ sprach, „da müss’n Se schon a Bissal weiter zurück!“ „40“ rief ich verzweifelt, ohne bedenken, dass man im Altertum beim Rückwärtszählen addiert! „Se wiss’n woll nich, dass (post id) factum im Altertum schtattfand?“ „48“ – „Na endlich.“ Und so ging es fort. Auch der Kaiser Sigismund wurde von mir nicht genügend gewürdigt. Das Konzil zu Konstanz war alles, was ich wusste. „Nu, weiter wiss’n Se nichts?“ – Ludwig der XV. sollte auch vorgestellt werden. Ich Unglückswurm berichtete aber flott über einen Krieg, den Ludwig der IV. führen ließ. Zuletzt kam noch Elisabeth von England dran, über die ich nur wenig wusste. Genug - ich bekam „nicht genügend“!
 
Im Englischen ging es besser. Ich übersetzte eine Stelle aus Shakespears „ Julius Caesar“ und hielt einen Vortrag über den Spectator. Die allgemeine Geographie wurde mir erlassen. Ebenso Physik. Chemie dagegen nicht. Meine Schwefelsäurebehälter, den ich an die Tafel malte, sahen recht niedlich aus, aber bewiesen war damit nichts. Im Gegenteil. Ich hörte nur das Wort Burmeisters: „Hm, das wissen Sie nicht!“, legte meine Kreide hin und setzte mich.

Wir wurden endlich in die Tertia gesandt und harrten ein paar bange Minuten. Um halb 9 Uhr abends verkündete man uns das Urteil: Einer bekam gut, die anderen 6 – darunter auch ich – „genügend“ bestanden! Fröhlich stoben wir auseinander. Wir hatten geglaubt, wenigstens drei von uns würden rasseln! Aber der Abiturient denkt und die Prüfungs-Kommission lenkt. Wir waren alle durchgekommen."

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